Camino-Tagebuch: Fünfter Tag - 4.8.2006

Etappe Fuenterroble - San Pedro de Rozados (28 km)
* Die Locals hier verschlucken tatsächlich auch in einsilbigen Wörtern den letzten Buchstaben. So heiße ich (Chris) hier schlicht "Chri", und der hochwürdige Pfarrer Don Blas wird angesprochen mit "Bla". (Ist das vielleicht eine ironische Anspielung auf zu lange Predigten?)
* Ich kann es nicht glauben, mein lieber Freund und Pilgerbruder Oliver hat tatsächlich meine täglichen Pilgerreports online gestellt auf:
http://via-de-la-plata-2006.blogspot.com/
Darf es mir also künftig nicht zu sehr verscherzen mit den Menschen, denen ich hier begegne - vielleicht lesen die ihr schlechtes Feedback gleich online (am Blackberry), und dann krieg ich gleich was auf die Pilgermütze?
Jetzt ist es also offiziell, dass alles, was ich ab jetzt per Blackberry-Report von mir gebe, direttissima im Internet landet. Bin zwar der journalistischen Wahrheit zu tiefst verpflichtet - aber ob das wohl mein Geschreibe beeinflussen wird?
* Hab mir den Wecker erst auf 6:00n dann auf 6h30 gestellt - frag mich jetzt warum eigentlich: Wenn das wetter so herrlich frisch bleibt wie gestern bis mittag, dann kann ich ruhig später lostigern.
* Wahnsinnsgefühl, das man hier jeden Morgen beim Losgehen hat: die Schmerzen des Vortages sind auf Null gestellt, die Morgensonne scheint (wenn man nicht vor Sonnenaufgang aufbricht), alle Sinne sind auf Hatschen ausgerichtet. Heute morgen ist es noch dazu - unglaublich nach der Affenhitze der letzten Etappen - richtig kalt! Ich wünsche allen 2-3 Lesern meines Pilgerreports einen schönen guten Morgen - und allen potentiellen (!) 6 Milliarden Lesen auch - hey, ich bin jetzt online! :-)
* Witzig - hier stehen vereinzelte Hinweisschilder auf römische Meilensteine (Milarios), obwohl sich kein Milario in der Nähe befindet - wurden die vielleicht von einigen kräftigen Pilgern im Vorbeigehen mitgenommen, um sie später feierlich auf einem Hügel abzulegen, wie das beim Cruz de Ferro auf dem Camino Francès seit Jahrhunderten mit Steinen praktiziert wird? :-) Ich befürchte, die wenigsten meiner 6 Milliarden Leser haben jetzt die hauchfeine Pointe überrissen: So ein Milario ist ein Granit-Gerät, das mir ca. Bis zur Schulter reicht.
* Frage mich, ob ich weichflötenmäßig die Fleecejacke drüberziehen soll, bis die kastilische Hochsommersonne so richtig aus dem Quark kommt. Verwerfe den Plan als zu weich.
* Hab grad ein schickes Selbstportrait geschossen, mit einem pechschwarzen Toro im Hintergrund. Der schaut aus als würde er mir unbemerkt über die Schulter schauen. Stelle mir schon das Stierkampfplakat vor mit meinem Matadorennamen: "El Gringo Peregrino"! Ist natürlich ein Schmarrn, dass das hier Kampfstiere oder auch nur Stiere wären, wenngleich sie für das anatomisch ungeübte Auge (auf der Unterseite des "Stieres" nachzählen!) So aussehen. Echte Kampfstiere sind angeblich viel zu wertvoll, um sie einfach so auf der Weide neben dem Camino rumstehen zu lassen, wo sie jedem Pilger hilf- und schutzlos ausgeliefert wären. Die werden dann wohl eher in ihrem Stiergestüt (?) Weggesperrt. Damit wird auch verhindert, dass die Toros die Gegend torerisieren, haha....(Wortspiel war beabsichtigt)
* Lese grad meine ersten Zeilen des Tages und denk mir "was schreib ich da für einen Schwachsinn"? - Das kann ja heiter werden!
* mir ist jetzt eingefallen, wie ich das oben genannte Foto nennen werde: "30 Sekunden vor der Attacke - auf den nichtsahnenden Kampfstier im Hintergrund!"
* Gear-Report (Hightech-Section!): Eines der wenigen Ausrüstungsstücke, die mir wirklich fehlen, ist ein Solarladegerät für den Blackberry. (Ein mittelalterlicher Pilger würde sich an dieser Stelle fragen, ob's mir noch gut geht). Das beste Gerät dürfte ein Teil namens Solio sein (www.solio.com), das wiegt grad mal 150 gramm, lädt alle möglichen elektronischen Gadgets auf und dient auch als Wandadapter. Unpackbar, der spielt echt alle Stückl. Leider zu spät gesehen, um es noch zu bestellen. Was ziemlich unnütz wäre, ist GPS-Navigation. Da reicht ein guter Pilgerführer aus. Distanzmessung wäre vielleicht ganz nützlich, zB. Mit dem Garmin Forerunner, den gibts jetzt schon als Uhr fürs Handgelenk.
* Was ich immer noch nicht gesehen habe, sind Schlangen. Nach 1 Jahr Südkalifornienerfahrung mit Dutzenden von Klapperschlangen vor der Nase beim Joggen ist das schon fast eine Enttäuschung. Schlangen gibts zwar hier, aber die scheinen strikt das Siestagebot zu befolgen. Einige wild aussehende Spinnweben hab ich auch gesehen, die von schwarzen Witwen sein könnten, aber konnte keine dazugehörige Witwe ausmachen.
* Gear-Report: Mein favorite piece of gear ist wahrscheinlich mein Bundeswehr-Dreiecktuch. Das ist so endlos vielseitig (Schal, Handtuch, Brillenputztuch etc.), und es gibt die beste Kopfbedeckung der Welt ab. Das Teil juckt nie! Und das Gesicht bleibt auch in der Mittagshitze schweißfrei. Weiterer Favorit: Bodyglide-Stick, ist die verbesserte Version des guten alten Hirschtalg. Hilft perfekt gegen Scheuerstellen und zT. Blasen. Unverzichtbar. Weiterer Top-Favorit: Die Ultralight-Wanderstecken (ca. 100 gramm) aus Fiberglas, von www.gossamergear.com. Ein absoluter Traum! Ein weiterer treuer Begleiter ist der kleine Armbandkompass, den man ans Uhrband dransteckt. Wo Norden ist, da geht's lang.
* Der Camino wäre noch schöner, wenn man mehr Platz hätte für das ganze geniale Gear. Das einzige was cooler ist als Gear ist: Mehr Gear! :-)
* die kastilkische Hochebene ist so schön, dass man sie mit Worten kaum beschreiben kann. Während man in meiner oberpfälzer Heimat Oberpfalz grad mal von einem Dorfkirchtum zum nächsten schauen kann, hat man hier - trotz welligem Boden - nichts als Sicht. Sicht über herrliche Täler, gelbe, vertrocknete Weiden, Berge im Hintergrund, Dörfer, Steineichen... Ich werd schauen, dass ich bald ein paar Fotos online bekomme, sonst glaubts mir keiner, wie schön das hier ist.
* Ham mir g'lacht: nachdem ich so lustige Scherzchen gerissen hab über die Nutztierfauna Kastiliens, bin ich unverhofft tutto directo in die schönste Stierweide hineingelaufen. Alles begann mit einer falschen - unmarkierten, dankeschön - Abzweigung, die endete in einem Eck, wo mehrere Zäune (links Toro-Gehege, rechts schwanze Serrano-Schinkenschweindln) zusammenkommen. Dazwischen: ein verwachsenes Gehöhlz, wo ich zumindest mein Ziel, den 1170 m hohen Pico de la Dueña, durchschimmern sah. Ich als alter Späher sofort rein ins Gehölz, sonst hätte mir ein Rückweg von 1 h gewunken. Nach einigen Minuten bergauf stell ich fest, dass auffällig viele riesengroße Kufladen auf der Wiese liegen, und bemerke bald die dazugehörigen gutgebauten Rindsviecher, pechschwarze Biester, die allesamt eine nicht sehr vertrauensvolle Haltung einnehmen. Als erfahrener Pilger zähle ich die Zitzen nach: Eine pro Rindsviech. Kombiniere: Bin jetzt nolens volens im Gehege der echten Toros gelandet! Auweia, und links und rechts Stacheldraht, soweit das Auge reicht. Ich mache meinen Rucksack abwurfbereit, hole das Pfefferspray raus (wie lächerlich gegen so ein Ungeheuer), danke Santiago, dass ich heut nicht mein rotes (!) Leiberl anhab - und denk mir: es gibt Momente, da ist es suboptimal, wenn man nur mit 100 g leichten Fiberglasstöcken bewaffnet ist. Die würde ein Torero sicher auch nicht zur Verteidigung mit in die Arena nehmen. Irgendwann gerate ich auch noch zwischen einen Toro und seiner Torodame (Tora?)! Das kann nicht gutgehen.... Es ging gut, auch wenn ich beim möglichst coolen, supereasy davonschleichen plötzlich böse gestolpert bin und so das Pärchen verstörte. Der eifersüchtige Toro muß sich echt gedacht haben, daß ich seine Damenbegleitung so fixiere, dass ich schon stolpere - ein Alptraum! Lektion daraus: in Spanien nach Gefühl von A nach B zu latschen, geht nicht. Das ganze Land ist mit Stacheldrahtkarrees aufgeteilt, und dazwischen tummeln sich heißblütige Kreaturen, die man sich am besten von ganz weit weg anschaut.
* habs überstanden: Jetzt sitz ich am Gipfel, mache Jause, checke die Körperfunktionen durch und mache Vollzähligkeitsappell aller Gliedmaßen.
* Das Motto des heutigen Tages ist:
"Two roads diverged in the woods and I
Took the one less traveled by. "
(Zitat aus Dead Poets' Society) - Hab mich heut zum 2. Mal verlaufen, und zwar beim Abstieg vom Pico de la Dueña. Dass der Weg gradaus verlaufen würde, durch ein Gestrüpp von jungen Eichen, das war weder markiert noch aus dem Führer ersichtlich. Ich muss natürlich den Weg nach links nehmen, durch noch dichteres Gestrüpp, Disteln und klettenartige Ähren, die am Socken entlang nach unten wandern und sich am der unangenehmsten Stelle festbohren.
Am Ende wartete dann zur Belohnung ein dreifacher Stacheldrahtzaun auf mich. Habe aber genug Hindernisbahnen absolviert, um mich da mit Rucksack durchzuschlängeln. Am Ende meiner Extratour war ich gehörig verärgert und im Eimer. Natürlich hat sich keiner der anderen Pilger an der Stelle verlaufen, aber ich halt wieder.
* Bin jetzt endlich angekommen, schon in die Herberge eingecheckt, in der Bar verpflegt (Bocadillo de Tortilla francesa, was sonst, gäähn) und liege jetzt gemütlich mit meinem Buch "Da Vinci Code" im Gras des örtlichen Freibades. Herrlich! Sogar Cervezitas haben die hier.
* Meine drei belgischen Damen sind auch angekommen, die schlagen sich ganz tapfer. Haben keinerlei spirituelle Assoziation mit dem Camino, suchen nur Erholung. Das ist ok, das hat ein Großteil der mittelalterlichen Pilger auch schon so gemacht. Ich wurde öfter gefragt, ob ich denn beim Gehen "meditiere". Warum traut sich keiner sagen "beten"? Es muß ja nicht alles so aufgeklärt-säkular sein, nur weil das derzeit grade en vogue ist. Ja. Der Camino hat auch eine religiöse Komponente für mich, zumal der spanische Jakobsweg die ideale Kombination ist, um Religiosität mit einem Heidenspaß zu verbinden. Als Pfarrer Don Blas mich gefragt hat, was der Camino mir bedeutet, habe ich ihm geantwortet: Alles. Es gibt für mich kein schöneres Hobby, keinen tiefsinnigeren Zeitvertreib, keinen sinnvolleren "Sport" als 4 Wochen durch das wunderschöne sommerliche Spanien zu laufen, alle Habseligkeiten am Buckel, und jede Nacht an eine andere Herbergstür zu klopfen. Was ich da schon alles kennengelernt habe, kann ich nicht beschreiben: Gastfreundliche Klöster, liebe Freunde, beschämende Gastfreundschaft & Großzügigkeit, herrliche alte Kirchen und Burgen...etc., etc.
* Heute Email von Juan bekommen. Wenn ich sein Spanisch richtig verstehe, will er doch auf einen Sprung vorbeikommen & mich begleiten!!! Vorfreude!!!
Ich plane bereits jetzt ein, einige Kilometer über dem Soll zu laufen, damit ich ein zeitliches Polster hab, wenn der Kamerad hier auftaucht: Erfahrungsgemäß kosten uns die ersten Wiedersehens-Cervezitas mindestens einen ganzen Tag zum Auskurieren :-)
* Sitzen grad mit 4 weiteren Pilgerbrüdern vor der Herberge und teilen die kulinarischen Schätze, die wir haben. Ist eine echt schöne Tradition, man teilt hier wirklich sein letztes Hemd, wenns sein muß, ohne zu fragen.
War ein herrlicher Tag heute, hab ordentlich Sonnenbrand, vor allem an der Südseite der Wadln. Kein Wunder, wenn man tagelang nach Norden zum Apostel im fernen Galicien latscht. Jetzt noch ein bissl Abendsonne genießen (21:30!), dann ab ins Betterl.
Chris
0 Comments:
Post a Comment
<< Home