Camino-Tagebuch: Achtundzwanzigster Tag - 27.8.2006

Etappe Finisterre - Muxia (30,1 km - mit Umwegen 35 km)
* Heute ist mein letzter Hatsch-Tag! Bin früh aufgestanden, um die letzten 30 km zum Marienheiligtum Muxia, zur Kirche A Barca, zu zelebrieren. Freu mich schon. Die Küste entlang nach Norden, durch viele schöne Waldwege.
* Bin wieder airborne! Gehe nach Muxia. Leider wieder Nebelnieselwetter, das die Motivation nicht ins Unendliche steigert.
* So, heut werd ich endgültig sentimental und hab einen ziemlichen Soul (Steigerung von "Blues"). Ich habe meinen 630 km langen Marsch fast schon komplett rum - nur noch ca. 6 km trennen mich von Muxia, mit seinem lokalen Marienheiligtum A Barca, wo die Jungfrau Maria mt einem steinernen Schiff angekommen sein soll. Die schiff-förmigen Felsen liegen heute noch da. Muss superschön sein und - im Gegensatz zu Finisterre - sehr untouristisch und ursprünglich. Die Pilger schlafen in der örtlichen Sporthalle auf dem Boden. Ein weiteres Argument - neben der unerträglichen Schnarcherei - für ein gepflegtes Einzelzimmer im Hostal. Ich verkrafte Pilgerduft und Kettensägengeschnarche wirklich nur noch sehr eingeschränkt. Und ausgerechnet der Welt-Schnarchweltmeister Javier, mein Pilgerfreund von der Via, der wieder daheim in Madrid ist, hat mich lieberweise eingeladen, bei sich zu übernachten, wenn ich meinen Zwischenstopp in Madrid habe. :-) Freue mich wirklich sehr über das liebe Angebot. Werden uns wohl zum Abschluß des gemeinsamen Camino einige wohlverdiente Cervecitas in die Figur schmeißen, wenn ich ihn richtig verstanden hab.
* Abschluß - immer wieder kommt mir dieses Wort wie ein unwillkommener Gast in den Kopf. Meine Beine könnten jetzt ewig weitergehen, ich bin endgültig süchtig danach. Einen Tag aussetzen, und man fühlt sich ohne Aufgabe, und wie ein Fremdkörper. Mich würde jetzt wohl keine Distanz wirklich schrecken, und keine Steigung wäre zu mühsam, keine Wüste zu heiß - ich will endgültig nur mehr weiter, weiter, weiter.
* Ich bin echt froh, daß ich mich doch noch entschlossen habe, nach Muxia weiterzugehen. Wegen dem blöden Regen in der Früh hab ich schon erwogen, darauf zu pfeifen und in mein warmes, trockenes Hostal nach Santiago zu verlegen. Hab mich auch schon an die Bushaltestelle gesetzt, zwischen ca ein Dutzend bekannte Gesichter, alle fahren mit dem Bus nach Santiago zurück. Und grad als der Bus einfährt, reißt der Himmel auf und verspricht schönes Wetter. Das ändert sich hier am Atlantik ratzfatz. Bis der Bus schon die Bremsen gelöst hat, hab ich hin und her überlegt und mir endlich gedacht: Ich würd mich mehr ärgern, wenn ich mich in den Bus setz und es wird auf einmal schön, als wenn ich loshatsche und es regnet die gesamten 30 km. Loshatschen war die richtige Wahl. Schönes Pilgerwetter sieht anders aus, aber es trägt bei zur mystischen Aura des grünen Galicien mit seinen verfallenen Granithäusern. Verfall ist hier das bezeichnendste Wort.
* Habe grade die wohl letzte Möglichkeit wahrgenommen, meinen Camino noch um ein paar km/Minuten zu verlängern, und hab den Umweg über den Praya do Lourido gewählt, einen schönen einsamen Sandstrand unten am Meer. Richtig loslassen will mich der Camino immer noch nicht, obwohl's grad mal noch 7 km bis Muxia sind. Die Endzeitstimmung wird noch verstärkt durch Schilder "Muxia- Fin de Camino". Das Ende aller Wege ist bald erreicht. Wer weiß, wann ich wieder dazu kommen werde, auf den Spuren des Apostels Jakobus zu wandern? Falls ich in naher Zukunft wieder meinen Rucksack packen sollte, dann bin ich (mit jeweils abnehmender Wahrscheinlichkeit) auf einer der folgenden Routen anzutreffen: 1) Französischer Jakobsweg, zB von Arles oder Le Puy 2) Camino del Norte durchs Baskenland oder 3) Camino Primitivo über Oviedo (?).
* Bin mir nicht sicher, ob ich mir möglicherweise durch meine Entscheidung, den "path less traveled by" nach Muxia zu nehmen, den "Bad Idea Award 2006" verdient habe. Denn lustigerweise hören sämtliche Kennzeichen des Weges, Pfeile, Hinweissteine etc, einfach auf an einer Stelle. Die hatten einfach keine Lust zum Weitermarkieren. Oder ging ihnen die gelbe Farbe aus? Na jedenfalls schönen Schrank, ich hatsch einfach der Kompaßnadel nach, Richtung Norden. Hoppla, jetzt kann ich auf einmal das Meer zwischen den Eukapyptusbäumen durchschimmern sehen! Ich glaub ich habs trotz allem bald geschafft.
* Habe vorhin bei einem abgelegenen Bauernhof nach dem Weg fragen wollen. Die Hunde waren froh über etwas Action und haben sich fast auf mich gestürzt. Wanderstock und Pfefferspray haben mir einen Rest von Selbstvertrauen gerettet. Der vermaledeite Bauer wollte nicht einmal nach draußen kommen, um mir den Weg zu zeigen. Er hat einfach vom ersten Stock, vom Zimmer aus, nach draußen geschrien "A bajo!". Mistkerl, so wenig hilfsbereit gegenüber einem Pilger zu sein!
* Bin grad an einer zauberhaften Bucht vorbeigekommen, beim Dorf Cuño. Das besteht nur aus einem einzigen Gehöft, und das steht zum Verkauf. Hätte mir um ein Haar die dort angeschriebene Telefonnummer für Kaufinteressenten notiert. Ein eigenes Dorf am Meer zu besitzen - wäre das nicht ein Traum?
* Soeben bin ich wieder mal einen kleinen Abzweigungsweg reingelatscht, um ein paar schöne Blicke auf das Meer zu werfen, und um ja nicht zu früh bei meiner Camino-Endstation anzukommen. Hier draußen, in der galicischen "Middle of Nowhere", gibt es wunder-wunderschöne Panoramen über die grünen Hügel zum Atlantik. Wäre mal eine Idee, das alles in Ruhe mit dem Auto zu erkunden. Oder mit dem Radl, oder mit Trailrunnigschuhen und ohne Rucksack?
* So, alles in allem dürfte ich durch meine grandiose Idee, eine Nebenroute zu gehen, 5 km mehr gegangen sein. Habe einige Buchten voll ausgelatscht, immer schön durch die Kurve, mit dem Marienheiligtum schon am Horizont. Aber im Ergebnis habe ich so ein paar herrliche Flecken Erde entdeckt. Und meine letzten Meilen noch schön ausgebaut und so den Camino verlängert.
* Die letzten Meter sind wirklich nicht leicht zu gehen. Ich will einfach nicht aufhören. Unten im Tal, in der nächsten Bucht, dürfte das schöne Muxia liegen. Wie wird das sein, wenn ich endgültig (!!) am Ziel bin?! Wenn wirklich gar kein Camino mehr weiterführt? "Muxia - Fin de Camino". Frühestens in einem Jahr werd ich wieder Urlaub haben und mir meine Pilgerschuhe anziehen können. Bis dahin werd ich meine Sehnsucht auf dem österreichischen (oder bayrischen) Jakobsweg oder dem dem Mariazellerweg ausleben müssen.
* Grad in Muxia ankommen! Juchu! 630 km zuende!! Habe mich zuerst pilgermäßig an den schönen verlassenen Strand gesellt und den herrlichen feinen Sand und das Meer genossen. Bin auch ins Wasser. Hab einige Selbstauslöser-Fotos gemacht, wo mein abgelegter Rucksack im Vordergrund liegt und ich von dort weiter Richtung Wasser marschiere. Ist für mich das symbolträchtigste Bild des gesamten Camino. Ich hoffe, es sieht auf dem großen Bildschirm genauso schön aus. Danach Weitermarsch mit nassen Klamotten bis zum Städtchen Muxia.
* Eingecheckt bei netter Señorita, die Gästezimmer vermietet. Will unbedingt schnarchfrei bleiben heute, also keine Herberge. Der Preis (30 Euro) zieht mir allerdings die Schuhe aus - das wurde mir eigentlich als Preis für ein gutes örtliches Hotel genannt.
* War grad in der Messe im Santuario de la Virjen de la Barca. Jetzt sitz ich davor auf einigen der merkwürdig geformten Felsen und schau aufs recht wilde Meer. Unglaublich - endlich angekommen nach einem Monat Hatscherei! Der Eindruck wäre noch stärker, wenn nicht die heutigen Touristenmassen versammelt wären, die ratschend und dauerrauchend mit schreienden Kindern in der Landschaft stehen. Ich hab selten so viele Raucher gesehen wie hier in Spanien. Offenbar gibt es ein neues Gesetz, daß man in Bars nicht rauchen darf, sofern man kein Schild aufgehängt hat, daß Rauchen hier explizit erlaubt ist. Und dieses Schild hängt original in genau jeder (!) Bar! Noch schlimmer als die Rauchpest ist der permanente TV-Lärm, weil die Glotze immer und überall an ist. Und - noch schlimmer - heut ist irgendein Real Madrid-Spiel. Das hört man live aus jeder Bar dröhnen.
* Es ist fast wie in einer Komödie: Komme am einzigen Restaurant des Ortes vorbei, wo meine 2 Lieblingsspeisen "Pizza y Hamburguesa" angeboten werden - und es hat geschlossen. Manchmal packt man das Schicksal in seiner gesamten Härte nicht mehr, vor allem passiert das in Spanien! - Jetzt bin ich in einer anderen Bar, wo sie angeblich Hamburger haben, bin mal gespannt.
* Ich bin nicht sehr begeistert von dem Eindruck, den die Locals hier machen: Die Frauen in Putzkitteln auf der Straße, die Männer in Joggingklamotten, alle rauchend auf der Straße, manche heftig streitend, viele mit irreal heiser klingenden Reibeisel-Raucherstimmen. Und um die nächste Ecke schon wieder der nächste aggressiv kläffende Köter, der sich an meine Fersen heftet und immer näher kommt, bis ich ihm deutlich mache, daß er Glen van Peski's 100 Gramm leichten Glasfaser-Wanderstock mit gefühlten 280 km/h auf die Mütze kriegt, wenn er nicht etwas unaufdringlicher seine Pflicht tut. Echt zum Kotzen, was man in diesem Teil Galiciens für aggressive Köter trifft.
* Hab heute meine dritte Pilgerurkunde bekommen. Santiago verleiht seit dem späten Mittelalter die Compostela, Finisterre ist seit ein paar Jahren mitgezogen und verleiht für die Pilgerschaft von Santiago nach Finisterre eine eigene (m.E. noch schönere Urkunde), und sogar das abseits gelegene Muxia wollte nicht ganz im Aus stehen und stellt nun eine eigene Urkunde für Pilger aus. Zumindest in Santiago und Finisterre wird sogar ziemlich akribisch der Credencial mit allen Pilgerstempeln und Datumseinträgen überprüft, ob die Laufleistung überhaupt glaubwürdig ist. Das führt zu dem sehr merkwürdigen Ergebnis, daß Pilger, die 2 Tagesetappen am Stück machen (zB 50-60 km an einem Tag gehen) regelmäßig keine Urkunde kriegen, weil man ihnen unterstellt, sie wären gefahren. In Finisterre haben einige solcher Extrempilger deshalb nicht mal einen Platz in der Herberge bekommen - man hat ihnen ihre Laufleistung nicht abgenommen.
* Der letzte Pilgertag ist fast vorbei. Im Städtchen ist rein gar nix los, deshalb hab ich mich in mein Bett zum Lesen verkrümelt. Mir ist grad eingefallen, daß ich die heute zuende gegangene Pilgerfahrt als Dankwallfahrt gegangen bin, weil mir soviel gutes passiert ist in letzter Zeit, insbesondere der erfolgreiche Jobwechsel. Aber eigentlich müßte ich viel mehr dankbar sein, daß ich überhaupt mit heilen Knochen hier am Ende des Endes der Welt angekommen bin: Die Schuhe haben keine allzugroßen Probleme gemacht, kaum Blasen, die Fitness & die Gesundheit haben mitgespielt, die Motivation hat mich auch nach 3 Tagen Dauerregen nicht im Stich gelassen, das Gear war im Allgemeinen zuverlässig, ich hab keine bösen Menschen getroffen, bin nicht betrogen oder bestohlen worden, und ich hab viele interessante, manchmal ziemlich verrückte Menschen kennengelernt. Ich hab die wochenlange Einsamkeit der Via de la Plata genauso überstanden wie das Touristengewurl von Santiago und die übervollen Herbergen bis Finisterre. Ich bin ziemlich stolz, daß ich's geschafft hab. Und trotzdem - warum soll ich stolz sein, wenn ich doch bloß der Beschenkte bin?
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