Camino-Tagebuch: Dreiundzwanzigster Tag - 22.8.2006

Etappe Santiaguiño - Santiago (17,3 km)
* Bin schon am Start. Es geht durch traumhafte Eukalyptuswälder. Unten in den grünen galicischen Tälern steht noch der Morgennebel.
* Der Fall Santiagos steht unmittelbar bevor! Die Wachen des Emirs, die seit der ersten kurzfristigen Befreiung durch bayerische Heere im Jahr 2002 wieder durch die Stadt patroullieren, ahnen noch nichts vom kommenden Wendepunkt in der Geschichte Galiciens. Sie wissen noch nicht, daß die Speerspitze der Befreier in wenigen Wochen aus dem tiefen Süden der Extremadura, bis über die Hochebenen Kastiliens, und nun in das Herzstück Galiciens vorgestoßen ist und halb Spanien der Oberherrschaft Cordobas entrissen hat. Zwischen der Mündung des Guadalquivir ins Mittelmeer und den grünen Hügeln Nordspaniens weht die weißblaue Flagge auf allen Kirchtürmen. Heidnische Gedenkstätten wurden konsequent zu Bierkellern umgebaut.
* Das Gehen wäre noch mehr Gaudi, wenn ich nicht - wie letztesmal - zu spät dran wäre für die 12:00 Pilgermesse. :-( Jetzt heiß"s Gas geben!
* Gestern hab ich mit den bayrischen Pilgerinnen ausgemacht, daß wir die letzten 17 km gemeinsam nach Santiago hatschen, und daß sie mich dazu rechtzeitig wecken. Haben mich auch geweckt, aber sind dann schon 15 min später mit kurzem Servus in die Morgendämmerung verschwunden, um allein zu gehen: "Du holst uns eh unterwegs ein". Bin nicht sehr amused.
* Während einzelne Pioniereinheiten zum Schein eine triphibische Landung bayrischer Spezialkräfte in das Herz der Stadt vorbereiten, stößt die Infanteriespitze des bayrischen Befreiungsheeres tief in die Vororte von Santiago vor. Es kommt zu vereinzelten Interaktionen mit Zivilisten, Widerstand bleibt jedoch aus. Die Besatzungstruppen sind entweder gut getarnt in ihren Unterständen oder haben sich bereits in das umliegende Küstengebirge zurückgezogen. Keilförmig schiebt sich nun die Infanterie vorwärts. Punkt 12 soll die Nachricht von der Einnahme der Stadt von den Kanzeln der Kathedrale verkündet werden.
* Erstmals liegt nunmehr das Staftzentrum im Wirkungsbereich bayrischer Infanterie!! Ein unglaubliches Gefühl!!
* In diesen Minuten bin ich in die Stadt einmarschiert, bei schönstem, blauem Himmel, um 10:15. Unglaublich, hab ich für die 17,3 km bloß 2,5 h gebraucht? Wieder ein Wunder, und das auf der Schlußetappe? Ich muß geflogen sein! "I could fly higher than an eagle, if you are the wind beneath my wings!"
* Jetzt steh ich grade in der Schlange von Pilgern(Ja, eine Riesenschlange, die bis auf die Straße rausgeht), um die Compostela-Urkunde zu holen. 2002 waren zur Hochsaison noch 3,4 Hanseln vor mir angestanden, jetzt scheint die gesamte (vor allem spanische) Pilgerschaft auf der Treppe zum bischöflichen Pilgerbüro angetreten. Da gibt es die üblichen "Helden des Camino", die sich dramatisch ihre Erlebnisse und angeblichen Kilometerleistungen erzählen, durchdesignte dürre Radpilger mit den angesagtesten Oakleys auf den kahlen Köpfen, Lifestyle-Pilger mit Rucksack und blitzsauberen, frischen Klamotten, hagere, drahtige, dunkelbraun gebrannte kurzhaarige Marathonläufer älteren Semesters mit weißem Bart und eine Portion tätowierte Interrail-Style Pilger im Batik-Look mit langen Haaren und riesigen Pilgerstäben. Sogar einen Metal-Pilger mit dämonischem Ziegenbart und mit schwarzem T-Shirt von irgendeiner unlesbaren Metal-Gruppe hab ich gesehen! Was der Apostel dazu sagt? Einige sehen aus als hätten sie sich am Souvenirshop um die Ecke noch schnell mit Erinnerungs-Pilgerstock und Einweg-Filz-Pelerine (Pilgerhut) eingedeckt. Auberge Español. Wohl sind alle vom Camino Francès gekommen. Von der einsamen Via de la Plata trifft man keinen, die gehen hier zahlenmäßig unter. Kennen würde man sich jedenfalls. Irre Atmo hier: Die Luft ist zum Schneiden vor Pilgerschweiß. Mist, schon einmal ist das Wort "Finisterre" gefallen ("da muß man hin"), und ich wollte doch am liebsten maximale Einsamkeit haben. Diese Camino-Francès-Interrail-Blase ist nicht meins. Seid umschlungen, Millionen - wo wart ihr eigentlich alle auf dem Camino?! Kennst ihr Euch alle vom gemeinsamen Warten an den Bushaltestellen?
* Hier geht es mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne voran. :-( Zwischendurch läutet eines der zahlreichen Handies mit topmodernen Klingeltönen. Wie man es von der Albergue kennt, läßt man es halt einfach läuten.
* Nach 5 min intensiven Prüfens meiner zahlreichen Stempel und eniger kritischer Nachfragen hat mir die Oficina-de-Peregrino-Maus doch noch die Compostela ausgestellt! Sie war mit der Anreise über Galisteo/Plasencia auf der Via de la Plata nicht sehr vertraut. Umso genauer nahm sie die lächerlich vielen überflüssigen Stempel und Datumsangaben aus den letzten 3 Tagen (Project Stempelmeltdown!) unter die Lupe. Das Projekt des Schwachsinnstempelsammelns war damit ein voller Erfolg. Ehrlich gesagt bin ich ja froh, wenn die Prüfung der Voraussetzungen für die Compostela im Zweifel etwas kritischer als nötig erfolgt, damit nicht jeder Pseudo-Pilger-Bozo nach 2 Tagen leichten Spazierens (mit Begleitfahrzeug!) mit dieser schönen Urkunde rumläuft. Ein Blick auf die Pilgerliste mit den 30 Einträgen vor mir hat mich zusätzlich überzeugt, daß man als Via-Pilger (noch dazu mit einer 500 km-Distanz zu Fuß) die absolute Ausnahme darstellt.
* Gear-Report! Sieht so aus als hat mein Ultralight-Rucksack die Zeiten seiner Peakperformance hinter sich, der Hüftgurt löst sich. Muss einen Schuster o.ä. finden, der mir das Teil näht, sonst kann ich höchstens mit vollen Hosentaschen nach Finisterre pilgern. (Wäre sogar für meinen Geschmack ein zu konsequentes "Sub-Ultralight Pilgrimaging")
* Mittlerweile war ich schon in der Pilgermesse. Pfarrer aus 6 Nationen waren im Präsid. Alle Pilger, die von weither zu Fuß gehatscht sind, wurden im Begrüßungswort erwähnt. Der Pfarrer hat aber so genuschelt, daß ich kaum verstanden hab, ob ich dabei war. Hab sogar die 2 valencianischen Fußpilger von der Via wiedergetroffen. Wurden unterwegs wieder einmal von den beiden bayrischen Mädels eingeholt, was natürlich mächtig Eindruck auf sie macht. Von letzteren hab ich seit ihrem merkwürdigen Stunt heut früh nix mehr gesehen - lege auch keinen verschärften Wert mehr drauf.
* Ist wirklich herrlich hier, müßte ca. 35 Grad haben. Genieße den Tag. Pilgermesse war auch schon. Morgen wird weitergehatscht zum Atlantik. 100 km. Jetzt noch kleine Orga-Time: Rucksack richten lassen, Instruktionen für Marsch nach Finisterre ausdrucken (Danke Dani!!), im Internetcafé Email-Postfach ausmisten, für morgen früh Churros klarmachen, abhängen und entspannen. Meine lange vermißten Burgers hab ich gleich als erstes verdrückt, das war ich mir schuldig. :-)
* Jetzt wo ich geduscht bin und keinen vollen Rucksack mehr am Buckel hab, komme ich mir zwischen den ganzen Pilgern vor als gehör ich nicht mehr dazu. Ist ein merkwürdiges Gefühl, das mir schon mehrere Pilgerbrüder genauso geschildert haben.
* Interessanterweise war diesmal der Eindruck der Pilgermesse nicht so überwältigend auf mich wie letztesmal nach dem C. Francès. Woran lag's? Vielleicht kennt man das ganze Zeremoniell einfach schon. Mit den intensivsten Erfahrungen, mit den "Good old Times" ist es meiner Meinung so: You can't re-live it. Niemals kann man einen bestimmten intensiven Eindruck so oder ähnlich wiederholen. Beim 2. Mal ist es eben nur das 2. Mal.
* Das Hatschen wird langsam zur Sucht.
Nachdem ich heute meinen lange gehegten Traum erfüllt hab und die gesamte Via de la Plata von Sevilla bis Santiago (1000 km) zu Fuß durchwandert bin, hab ich ein merkwürdiges Gefühl. Bin um einige herrliche Erfahrungen reicher, aber um einen Traum ärmer. Ich würde gerne die Uhr nochmal zurückdrehen zu der Zeit, als ich noch geplant, getüftelt, optimiert und trainiert hab, um den Marsch zu schaffen. Als noch gar nicht klar war, ob es zeitlich jemals gehen wird, ob nicht irgendeine Krankheitsphase dazwischenkommt, irgendwelche unerträglichen Blasen an den Füßen etc.
* Jetzt geh ich mal beim Apostel vorbei und denk an Euch daheim.
* Ich möchte meinen Bericht der Pilgerreise nach Santiago an dieser Stelle ergänzen mit einem Schlußzitat aus Lozano's Camino-Führer:
"Und damit ist unsere Pflicht getan. Wir verlassen Dich, frommer Pilger, hier zu Füßen des Apostels, nachdem wir Dich auf dem mühsamen, fast 1000 km langen Weg begleitet haben."
Der Weg war in der Tat mühsam, bisweilen eine Tortur (zB die letzten 3 Regen-Etappen mit entzündeten Füßen vor Ourense), aber es hat sich gelohnt.
Es liegen insgesamt tatsächlich 1000 km hinter mir: 500 km im Jahr 2003, und 500 km im Jahr 2006. Und das schönste: Es liegen noch weitere 100 bzw. 120 km vor mir: Sehr schöne, sehr einsame Kilometer bis zu den Atlantikklippen und, wenn es sein darf, an den Atlantikklippen entlang nach Norden bis nach Muxia.
Diese letzten Etappen auf dem Camino de Fisterra sind das eigentliche Herzstück meines diesjährigen Jakobsweges. Dieses Stück bedeutet für mich das "Ultreia", das "immer weiter". Es macht aus einem Fußmarsch-Marathon einen Ultramarathon. Endlich wird es auch nochmal so richtig einsam werden.
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