Via De La Plata 2006

Tagebuch meines Jakobsweges auf der "Via de la Plata", dem 1000 km langen Pilgerweg von Sevilla nach Santiago. Dieses Jahr stand die 2. Hälfte an, von Grimaldo/Plasencia nach Santiago de Compostela, und noch 130 km weiter nach Finisterre und Muxia, zum "Ende der Welt" am Atlantik.

Tuesday, August 15, 2006

Camino-Tagebuch: Sechzehnter Tag - 15.8.2006

Etappe Lubiàn - A Gudiña (25 km)

* Meine Spanierkumpels schätzen, daß es nur noch 8 Tage bis Santiago sind. Aber ich will ja fast 100 km weiter, bis zum Ende der Welt!

* Sind heut erst um 08:30 los, weil's uns hier in den Bergen in der Früh zu kalt ist. Und Abends wird's eh nicht mehr so heiß wie in der Extremadura. Also paßt sich wieder mal der Pilgerrhythmus der jeweiligen Gegend an, gefällt mir.

* Verlassen gerade das schöne Dörflein Lubiàn. Unsere Schmähs kreisen schon einige Zeit um den merkwürdigen Engländer, der es vorzog, auf der nackerten Matratze mit der bloßen (Graus-)Wolldecke am Balkon zu schlafen, um nicht mit einem Spanier & mir im Schlafsaal zu nächtigen. Am Camino kann man sich solche Extrawürstlein in der Regel nicht braten: Man nimmt was man kriegt. Und wenn man zu nobel für die Gesellschaft von normalsterblichen Pilgern ist, zahlt man halt ein paar Euro mehr & geht ins Hostal, aus.

* Auf der Via de la Plata hat sich - wohl wegen des ausreichenden Platzangebots - noch nicht die eiserne Regel durchgesetzt, daß Radpilger erst dann die Herbergen beziehen dürfen, wenn z.B. ab 18:00 kein Fußpilger mehr zu erwarten ist. Diese Regel trägt dem Umstand Rechnung, daß die Radler ja viel mobiler sind und problemlos in den nächsten Ort fahren können, wenn ein Refugio voll ist. Auf der Via ist der Pilger schon manchmal überrascht, wenn er am frühen Nachmittag die Herberge betritt und sich bereits ganze Rudel von Radlern vergnügt herumtummeln.

* Von meinen Blasen spüre ich gar nix, bin wieder stolz auf meine gestrige OP.

* In dieser Minute überqueren bayrische Vorauskommandos, verstärkt durch 2 Einheiten spanischer Infanterie den Paß A Canda und sickern unbemerkt in die Provinz Galicien ein! Auf dem Gipfel hinterlassen die Truppen eine Fahne mit dem großen bayrischen Staatswappen, der Freistaatskriegsflagge. Die ersten zivilen Ansiedlungen geraten bereits in den Wirkungsbereich der nachstoßenden spanischen Verbündeten. Unter ständiger gegenseitiger Sicherung gehen die Einzelschützen vor und verlegen ihre Hauptkampfkraft ohne Zwischenfälle talwärts. Nachdem Bayrisch-Kastilien endlich erfolgreich dem Emir von Cordoba entrissen wurde, steht nun die Befreiung Galiciens auf dem Einsatzbefehl. Die Moral in der Truppe ist hervorragend. Die Männer, die schon gemeinsam vor den Toren von Moreruela, auf den Feldern vor Puebla und im Talkessel von Lubián gedient haben, können es nicht erwarten, das Land vor Ihnen unter die schützende Hand des Freistaates zu stellen. Erste Meldungen von überlaufenden Regierungstruppen, die sich als Erkennungszeichen - wie ihre Befreier - Muscheln an die Rucksäcke heften, warten noch auf die Bestätigung durch den Generalstab in der Münchner Staatskanzlei.

* Soeben findet der bejubelte Einmarsch der bayrisch-spanischen Kräfte in Vilavella statt. Was für ein Erlebnis! Ältere Bürger des Dorfes, deren Vorfahren einst schon im hier stationierten 1. Wittelsbacher Garde-Gebirgsschüten-Kürassierregiment (I. Gd.-GebSchtzKüRgt.) gedient haben, laufen den Befreiern im über Generationen vererbten Harnisch und im weißblauen Waffenrock entgegen.

* Die Befreier werden von den Einheimischen schnell in den unter dem Emir lange Zeit verbotenen lokalen Brauch eingewiesen, der sich "cervezita" nennt: Man versucht, trotz erheblicher Oberflächenspannung kleinste Mengen Bier aus einer möglichst kleinen Glaspipette zu trinken. Der Gewinner genießt im Dorf hohes Ansehen. Die Verbindungsoffiziere beobachten interessiert die Interaktion mit der Zivilbevölkerung. Einige haben ihre handgravierten Maßkrüge mitgebracht, die auf die Zivilbevölkerung offenbar großen Eindruck machen. Der wohl häufigste Kommentar ist: "Mira! Un baño de niños!"

* Den vollständig angetretenen bayrischen Verbänden ist anzusehen, daß sie sich in dieser Gegend sehr willkommen und geradezu heimisch fühlen. Besonders die Truppen aus der ebenso kargen Oberpfalz ("Stoapfalz") fühlen sich angesichts der granitreichen, ablenkungsfreien Wiesenlandschaft geradezu wie zuhause.

* Auf dem Rathaus weht die Freistaatskriegsflagge. Der festlich herausgeputzte Bügermeister, ein Nachkomme des damaligen bayrischgalicischen Standortältesten, begrüßt die Befreier mit Böllersalven aus einem antiken Steinschloß-Artilleriestutzen, direkt über die Köpfe der verdutzten Zuschauer hinweg. Als nächstes folgt das Defilee der örtlichen Kompanie der galicischen (ehem. asturischen) Heimwehr, die immerhin seit dem Treffen bei Covadonga im 8. Jahrhundert auf eine recht beachtliche Reihe von militärischen Erfolgen gegen die Invasiontruppen des Emirs zurückblicken kann.

* Ohne Witz: Mein Rucksack hängt jeden Tag ein Stückerl tiefer, weil mein offenbar nunmehr geschrumpfter Bauchumfang nicht mehr den gewohnten Halt bietet. Enger schnallen geht nimmer. :-( (= gute oder schlechte Nachricht?)

* Ich werde künftig nicht mehr solche lustig gemeinten Bemerkungen über die Vorliebe meiner spanischen Pilgerbrüder machen, die mit Freude in ganz normale Sätze typisch spanische Kraftausdrücke wie "joder", "cojones", "putamadre" oder coño" einfügen. - Das Tourrette-Syndrom ist echt nichts, um sich drüber lustig zu machen ;-)

* Sind gerade etwas gefrustet, weil es hier in dem Kaff weder eine Bar noch ein Restaurant gibt. Javier meint: "Coño, què mierda?! Die werden hier doch wohl irgendwo eine Bar mit einer Cervezita haben, wir sind doch hier in einem zivilisierten Land!"

* Die völlige Unfähigkeit der Locals zu präzisen Entfernungsangaben verursacht wieder mal einen kernigen Extraweg, natürlich bergauf. Denen muß echt irgendein spezielles Gen fehlen...was die oft für einen Schmarrn verzapfen, unglaublich.

* Ab heut abend nur (?) noch 220 km bis Santiago! Und 350 km hab ich schon aufm Buckel.

* Werde künftig nicht mehr die Theorie vertreten, daß einem Pilger nach der ersten Woche "eigentlich nix mehr passieren kann" (insbes. Blasen). Auch mein früher postuliertes Theorem, man müsse nur mit Trekkingschuhen statt Stiefeln laufen, um vor Blasen sicher zu sein, wird von mir nicht weiter in der Fachpresse lanciert. Beides nämlich offenbar ein Käse, wie ich soeben herausgefunden habe.

* Habe beschlossen, ich werde nicht versuchen, einen zweiten Ultralight-Stecken von Gossamergear zu ordern, ist mir zu unsicher, ob's rechtzeitig ankommt. Außerdem sind die mittelalterlichen Pilger auch mit einem Ultralight-Stock nach Santiago gekommen. Muß nicht alles superperfekt sein.

* Jetzt rächt sich bitter, daß wir bei der Bar im letzten Kaff um 12:00 nix gegessen haben - es war noch nicht offizielle Essenszeit: Haben Bärenhunger & warten schon seit 30 min auf einen Platz im Comedor eines Restaurants. Alles voll. Es ist schon 14:30. Wenn i allein wär, würd i schnurstracks weiterpilgern. Ich glaub ich geh morgen früher los und hatsche bis abends wieder solo. Da hab i koa Gschiß mit dem spanischen Eßzeremoniell und kann machen was i will, ohne warten, wann ich will, wo ich will.

* Wenngleich der Abschied schwerfällt: Die Trommel schlägt das Signal zum Aufbruch: Die alliierten bayrisch-spanischen Streitkräfte setzen sich in Bewegung. Sie müssen in das Quartier bei A Gudiña verlegen, das es bis zum morgigen Tagesanbruch unbedingt zu halten gilt. Die versammelten Dorfbewohner winken ihnen zum Ausmarsch zu, so manche heißblütge Señorita drückt eine Träne in ihre Dirndlschürze, und das stolze Lächeln aus den zahnlosen Mündern altgedienter Covadonga-Veteranen entschädigt das Entsatzheer für alle Mühen und Opfer, die es bringen mußte, um diesen Landstrich wieder dem Freistaat als 6. Regierungsbezirk einzuverleiben. Der vertraute Klang von westwärts marschierenden bayrischen Kampfstiefeln hallt durch die galicischen Dorfgassen.

* Rücken grade in die Herberge in A Gudiña ein.

* In der Herberge sind einige Radlpilger (komisch, zu denen hat man eigentlich nie einen persönlichen Kontakt) und eine nette deutsche Fußpilgerin, die hier ihren Camino beginnt. Sitzen grad alle beim Abendessen. Bis bald!

Chris

0 Comments:

Post a Comment

<< Home