Camino-Tagebuch: Dreizehnter Tag - 12.8.2006



Etappe Santa Croya de Tera - Rionegro del Puente (28,4 km)
* Das Bayern-Salzburg Radlteam sitzt um 10:30 immer noch gschmeidig beim Frühstücken! Haben Wecker verschlafen :-)
* 11:30: So, jetzt bin ich endlich ausgecheckt aus der genialen Herberge in Santa Croya. Hatte noch die Ehre, Gaspar, den Sohn der Hausherren, aus dem Bett zu schmeißen, um zu zahlen und um seinen Schestern liebe Grüße auszurichten, die sich nach der exzessiven Fiesta noch etwas Schönheitsschlaf gönnen.
* 11:45 Uhr. Gehe verkatert wie auf rohen Eiern. Hab schonmal fitter ausgschaut. Werde im Lauf des Tages fast 2 Dreiliterwassersäcke austrinken...
* Die Weinbaugegend hier ist wirklich nett, die Leute sind völlig anders gestylt als in den ganzen Bauerndörferln entlang des Weges, zB in der Extremadura: Irgendwie wirken alle wie studiert. Viele könnten als Steuerberater, Anwälte oder Ärzte durchgehen. Wohlhabender als die bisherigen Gegenden an der Via wirkt die Region allemal. Für die Familie der Hospitaleros in Sta. Croya ist der Weinbau bezeichnenderweise nur ein Hobby. Verkauft wird keine einzige Flasche. Alles wird in-house konsumiert. Und die herrliche Bodega mit dem 3 m tiefen kühlen Keller im Lehmboden dient ausschließlich dazu, Freunde und Gäste zu bespaßen. Und das nicht zu selten.
* Einige Passanten fragen mich, warum ich allein unterwegs bin. Natürlich sage ich, daß man nur allein sein eigenes Tempo gehen kann, und dass man ja abends seine Freunde wiedertrifft. Aber es reizt mich, einmal auf die Frage zu antworten "weil ich pathologisch asozial bin!" - Oder "ich bin auf der Flucht" (fällt noch jemand eine coole Antwort ein?)
Hab lange daran gefeilt, endlich ist sie fertig:
* Power-Pilger's Energie-Tabelle:
Wenn man so schlecht beeinander ist wie ich heut, dann kann man sich mit ein paar einfachen und behelfsmäßigen Mitteln wieder zur Power-Höchstform pushen:
- 1x Rasieren wirkt wie ein Energydrink
- 1 frisches T-Shirt wirkt wie 2 Energydrinks
- morgens 5 min später Aufstehen wirkt wie 30 min im Sauerstoffzelt
- 30 min kalt Duschen wirkt wie 2 h tantrische Ayurvedhamassage
- 2 doppelte Café con leche wirken wie 1 Frischzelleninfusion
- 3 h lockere Siesta unter einem Baum wirken wie eine Botox-Kur
...und die wichtigste Power-Regel:
- 1 h Schlaf wirkt wie 2 h Schlaf. :-)
* Vorsichtig und noch mit weichen Knien taste ich mir meinen Camino durch einen schönen Pappelwald, in dem der Wind leise durchstreift und die Baumkronen zum Rascheln bringt. DAS wird heut ein Tag...
* 13:15 Uhr: in einem aufsehenerregenden Selbstversuch auf seinem Marsch entlang des Camino Via de la Plata stellt der Pilger C. fest, daß zweieinhalb Stunden Schlaf - aus streng wissenschaftlicher Sicht - nicht als ausreichend angesehen werden können für eine 30 km-Etappe. Die Fachwelt ist erstaunt.
* Hat mir ein Scherzbold heimlich einen Hinkelstein in den Rucksack gepackt?
* Gerade habe ich das schöne alte Kirchlein von Santa Marta besucht mit Fundamenten aus dem 10. Jhd. Am Südportal steht die älteste bekannte Darstellung des Apostels Jakobus als Pilger, aus dem 11. Jhd. Fotos von dieser Statue hat fast jeder Pilger schonmal gesehen. Und obwohl sie so berühmt ist, steht sie nicht auf dem populären Camino Francès, sondern auf dieser unscheinbaren Nebenroute zur Via de la Plata. Das macht mich als Via-Fan extrastolz.
* Mittags ein 1-h-Powernap unterm Baum an schönem Flußstrand. Fast perfekt, wenn der schreinde, nölende Gschropp namens "Sergio" nicht so im Wasser herumkrakeelt hätte. Schlimmer noch war sein Papa, der keine Minute ausgelassen hat, um die unspektakulären Aktionen von Sergio-Gfraast laut zu kommetieren. (Ich erinnere mich hier an die Werbung "Use Condoms!") ;-)
* Gerade in rettender Bar in Calzadilla de Tera angekommen. Von außen optisch nicht aufzuklären, nur das gesellige Brüllen kartenspielender Señores markiert: Hier ist Homebase für die örtlichen Homies! Innen gilt: strictly indoor sports - die Fenster zu, die Rolläden zu, die Lokalität ist versiegelt & frischluftfrei. Habe die Padrona überredet, mir ausgehungertem Pilger ein Supperl, einen Tomatensalat & ein Rührei zu machen, eine echte Ausnahme, jetzt was zu essen zu kriegen (ist eigentlich mancherorts ganztags Siesta?!). Freu mich schon drauf.
* Die Padrona war wirklich extrem lieb und hat mich im Hinterstüberl persönlich bekocht. Habe mir ausgerechnet, daß ich noch ca. 4 h zu hatschen hab, dann komm ich nach 20:00 in Rionegro an. Später wärs nicht ganz optimal, u.a. wegen den Wölfen hier. Hab meine Wasserspeicher nochmal an einer Quelle vollgefüllt, jetzt kann nix schiefgehen.
* Die bereits als heftig angekündigte "Dschungeletappe" zum Duero-Stausee enttäuscht meine Erwartungen nicht: immer tiefer geht's (Lobau-esk) rein ins Unterholz entlang des Flußufers, danach in einer richtig herausfordernden Steigung quer durchs Gestrüpp steil hinauf Richtung Staustufe. Vietnam war dagegen ein Kinderpicknick!!
* Habe über Email die "Intel" erhalten, daß jetzt sogar schon Ourense von den verheerenden Waldbränden bedroht sein soll. Das liegt exakt in meiner area of operations. Requeste von Mission Control: Alle verfügbare Intel (über news.google.de und das Pilgerforum auf www.ultreia.de) zum Waldbrandstatus auf meiner Route. Insbesondere eben über Puebla de Sanabria u. Ourense Richtung Santiago (Camino Sanabres). Wenns wirklich übel ausschaut, kann ich meine Mission wahrscheinlich abbrechen :-(
* Laut Barbedienung und Hospitalera am Weg kommen im Sommer zwischen null und 6 Pilger pro Tag hier vorbei. Wenn's mehr sind, dann meistens Radlergruppen. Wenn's Fußpilger sind, dann sind die fast immer allein (und alle asozial? ;-)). Interessante Info. Angeblich sind im Mittelalter am Camino Francès auch nicht viel mehr Menschen pro Tag gepilgert.
* Mittlerweile hab ich Mission Briefing von Mission Control erhalten mit Waldbrandinfos: Die beste Info ist, dass der Camino bislang nicht betroffen scheint. Wieder mal ein Jakobswunder!
* Wenn die letzte Herberge in Sta. Croya von der Herzlichkeit her das Ultimum war, dann ist die jetzige Herberge von Rionegro das Ultimum an allem: die hier seit dem Mittelalter (vor dem 14. Jhd.!) bestehende Cofradìa de los Falifos, die seit Jahrhunderten Pilger betreut und Wege verbessert, hat ein uraltes Pilgerhospital nagelneu hergerichtet. Mitten im Dorf, riesengroß, wunderschön, es hat einen um! Mit Patio, Balkon, Küche, Bäder, 2 Stockwerken mit Betten... Es gibt sogar eine Waschmaschine! Die erste am Camino. Witzigerweise sind einige Pilgerbetten sogar mit dem Rollstuhlzeichen markiert und damit für Behinderte markiert - ich hatte aber eigentlich nicht den Eindruck, daß die letzte Dschungel-Etappe durchgehend rollstuhltauglich gewesen wäre ;-)
Chris
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